- Alexander Kluge
(1983)
- Autorenfilm / Politik der
Autoren
-
- Eine Unterscheidung: Es gibt
Filmemacher, die die Konventionen des Gegenwartfilms durchbrechen
(nicht sämtliche Autorenfilmer tun das). Nur diese
Autorenfilmer im engeren Sinn haben sogenannte Autorenfilme
hergestellt. Für diese Filme wäre an sich keine
Filmpolitik notwendig. Sie hätten, weil sie durchweg
Kunstwerke sind, auch in Galerien oder im Umkreis von
Opernhäusern ein hinreichendes Versteck. Man darf deswegen
die Anfänge jeder Autorenfilmbewegung, des Neorealismus in
Italien, des Free Cinema in England, der Nouvelle Vague in
Frankreich, des neuen Films in der Tschechoslowakei ,des Cinema
Nouvo in Lateinamerika, des New American Cinema in New York, des
Neuen Deutschen Films nicht mit der Politik der Autoren, dem
Prinzip des Autorenfilms gleichsetzen. Die Filme von Viado Kristl,
die ersten Filme von Godard, die Filme von Jean-Marie Straub, von
Jacques Rivette, von Bernardo Bertolucci, Ferdinand Khittl, Reitz
/ Kluge (IN GEFAHR UND GRÖßTER NOT BRINGT DER MITTELWEG
DEN TOD), Reinhard Kahn u.a. sind, ebenso wie Filme von Dreyer,
Murnau, Bresson bis zurück zu den Brüdern Lumiere und zu
Méliés, sämtlich Unikate. Sie sind nicht
nachahmbar und schon deshalb nicht Gegenstand von Politik. Ihr
Anspruch, gegenüber einer insgesamt kommerziellen
Filmwirtschaft zu koexistieren, ist ein kämpferischer
Anspruch: sie würden im Ernst nicht fragen, ob sie zugelassen
sind.
-
- Daß bestimmte Autoren
solche Filme machen, ist die eine Sache; daß aus dem Umkreis
dieser Autoren bestimmte Konzepte der Filmpolitik entstehen, die
umfassend sind, weil sie aus Kenntnis der Filmgeschichte und des
Metiers ihre politischen Unterscheidungen entwickeln, führt
zur Verwechslung von Autorenfilm und Politik der
Autoren:
-
- 1. Liebe zur
Filmgeschichte. Kino verstanden als ganze Filmgeschichte; die
Cinématheque von Henri Langlois ist die Kernzelle der neuen
Welle in Frankreich. Dort sitzen die Kritiker der Cahiers du
Cinéma und sehen die amerikanischen Filme. Sie sind
neugierig. Sie stellen fest: Wenn wir einen Western gesehen haben,
kennen wir das Prinzip aller Western. Wenn wir einen Western
gesehen haben, kennen wir dennoch nicht alle. Der entscheidende
Unterschied, der sich nicht notwendig auf die Verkäuflichkeit
der Filme auswirkt, liegt, vom Genre hergesehen, in einer
Nebensache: der persönlichen Handschrift ihrer Autoren (meist
des Regisseurs). Ein Film von Hawks unterscheidet sich sehr
deutlich von einem von Ford, und es gibt keine Qualität im
allgemeinen. Der Impuls dieses Anteils der Bewegung heißt:
»Es leben die Nebensachen! Wir brauchen eine Politik, die die
Professionalität dieser Nebensachen herstellt.«
Professionelle Nichtprofessionalität.
-
- 2. Gesunder Menschenverstand.
Unternehmerische Haltung. Für Filme, die innerhalb ihres
Genres fast überhaupt keine Handschrift tragen, werden hohe
Summen ausgegeben (z.B. fünf Millionen). Es sind
risikoscheue, feige Filme. Wiederholungen. Derjenige, der bisher
(als Kritiker der Cahiers du Cinéma) im kommerziellen
Betrieb gar keine Erfahrungen gewonnen hat, wird einen
Unternehmerstandpunkt beziehen: Für fünf Millionen
können wir fünf Filme (oder zehn) herstellen. Von
AußER ATEM, dem ersten langen Spielfilm von Jean-Luc Godard,
wird gesagt, er habe 200.000 NFr. gekostet. Der Gedanke
heißt:Wir entkommen den Banken und der Dummheit der
Produzenten nur, wenn wir preiswert produzieren. Billig-Produktion
heißt zensurfrei und beweglich = B-Film.
-
- 3. Protest. Die
Protestgründe der Filmneuerer sind in jeder der historischen
Bewegungen verschieden, vor allem bei den Einzelnen
unterschiedlich. Der Protestgrund von Truffaut und der von Godard
ist z.B. verschieden breit. Godards Protest richtet sich auch
gegen Sprache, gegen Kultur überhaupt, derjenige von Truffaut
würde sich höchstens gegen Mißbrauch der Sprache,
Mißbrauch von Erziehung, gegen verdrehte Kultur wenden.
Dennoch vereinigt alle Mitglieder der neuen französischen
Welle der Protest gegen das »Qualitäts-Kino«, das
die bloße Verwaltung der ästhetischen und inhaltlichen
Errungenschaften des französischen Kinos der 30er und 40er
Jahre betreibt. Synthetische Qualität, ein erreichtes Niveau,
von den Wurzeln des Filmemachers, von der naiven Grundlage des
Kinos, von der Filmgeschichte abgeschnitten. »So können
wir uns niemals äußern.«
-
- Karl Kraus sagt: »Wir
haben unser Niveau wieder erhöht. Es hat nur noch einen
Nachteil: es steht keiner mehr drauf.« Die sich nicht mehr
draufstellen, sind die Neuerer. Sie können dies sagen, weil
die Bevölkerung im Grunde das Gleiche denkt.
-
- 4. Arbeitsteilung,
Beweglichkeit der Aufnahme-Teams, Rotation, Kooperation. Ein Chef,
der die Arbeit seiner Mitarbeiter notfalls ersetzen kann, vermag
Autorität auszuüben. Jemand, der vom Metier gar nichts
versteht, hat eine Schein-Autorität, die des
Geldes.
-
- Er ist als Verhinderer
mächtig, nicht als Macher. Der Hauptplan der Filmneuerer
kommt aus dem Selbstbewußtsein, das auf der Austauschbarkeit
ihrer Rollen beruht. Truffaut produziert, Godard macht Regie; es
läßt sich beliebig umkehren. Einer dreht den Film, der
andere schneidet ihn. Alle befinden sich miteinander im Dialog.
Sie sind tödliche Feinde (Katastrophenspiel). Sie treffen
einander oft, führen belanglose Plaudereien, bei dem man aber
dies und jenes Wesentliche erfährt (Irrflugspiel). Die
Produktion hört nirgends im Privaten auf
(Gleichgewichtsspiel), einer klaut des anderen Ideen, nutzt die
Werkzeuge seines besten Feindes (subjektive Seite der Mutation,
Maske) alles, einzeln, Gift für die Kooperation; zugleich die
Grundbedingung für eine gewisse Zeit von Kooperation. Man
kann nachweisen, daß an allen ersten Filmen kooperative
Teams am Werke waren.
-
- Ein offenes System. Daran
hängt das Selbstbewußtsein, die Lust, aber
außerdem die Glückschance. Man hat in dieser offenen
Weise in der Regel »mehr Glück als Verstand«, was
wiederum den Dialog fördert. Verhärmte pflegen
keinen.
-
- 5. Enthierarchisierung,
Anarchisierung, Rückgriff auf Traditionen außerhalb des
Films. Die Filmemacher von den Cahiers du Cinéma die ihre
Kritik überführten in Filmemachen, kamen aus dem Reich
der Worte. Liebe zum Buch, die Vorstellung, daß
Goldschmiedekunst ein Vorbild für Filmemacher sein kann,
Heißhunger nach wirlichen Verhältnissen, erotische
Kenntnisse (Truffaut), Liebe zur Musik, Liebe zur Politik -
Bedürfnis nach den exotischen Nischen der Filmgeschichte - es
sind leidenschaftliche Bindungen an Traditionen, die der Film bis
dahin nicht aufgegriffen hatte, die, in das Filmemachen
eingebracht, die Neuerungsbewegung erfüllt haben. Sie haben
sie mit einem Chor verschiedenartigster Stimmen, der sogenannten
Vielfalt, ausgefüllt.
-
- Die französischen Kritiker
in den Cahiers du Cinéma haben von Cinéma des
auteurs und von der Politik der Autoren gesprochen. Sie meinen
damit eine Entfaltung von Filmherstellung, die im Prinzip die
notwendige Individualität und Besonderheit, die die Produkte
ebenso haben wie die Zuschauer selbst, in den Vordergrund
rückt. Deshalb hat der Autorenfilm immer eine für alle
Teile des Films (also auch den Zutatenfilm) zutreffende
Filmpolitik entwickelt.
-
- Das Prinzip des Kinos der
Autoren läßt sich in jedem Moment von seinem Gegenpol
verstehen. Die Gegenpole sind z.B.: bloße Verwaltung,
abstrakte Qualität, closed shop oder Berufskarte;
Arbeitsteilung ohne Umkehrung, so daß derjenige, der nichts
versteht, befiehlt und derjenige, der die Befehle nicht versteht,
gehorcht. Unbeweglichkeit der Teams; durchgeplantes Projekt;
Unkenntnis der Filmgeschichte, Konzern.
-
- Die Diffamierung des
Autorenprinzips, die sich heute in allen europäischen
Ländern findet, beruht auf mehreren Ursachen:
-
- (1) Es gibt zu wenig
Autorenfilm. Politik der Autoren ist jeweils in so geringem
Maßstab nur verwirklicht (sie wird sofort administrativ
aufgegriffen und gegen das Autorenprinzip gewendet durch die
Verwaltungen), daß sie als unwirklich erscheint. Es gibt
kaum unvermischte Beispiele.
-
- (2) Selbstverständlich ist
Politik der Autoren überhaupt nur an den interessierten
Seiten der Zuschauer, der lebendigen Natur in den Menschen
interessiert und nicht an der Ausnutzung ihrer
Erschöpfungszustände.
-
- (3) Sie interessiert sich nicht
für Banknoten, sondern für die Entfaltung der
Produktionskraft Film. Insofern hat sie die Gegenpropaganda der
Tagesinteressen gegen sich.
-
- (4) Eine Kernüberzeugung
der Wirtschaftsroutiniers im europäischen Film heißt:
»Man kann nicht mit den Erfolgen von morgen die Jahresbilanz
ausgleichen.« Dieser Hinweis besagt, daß später
berühmt gewordene Filme, vom BLAUEN ENGEL bis
CASABLANCA, in ihrer aktuellen Einspielzeit nicht die
Filmwirtschaft finanzieren konnten. Obwohl die Existenz des Kinos,
antworten die Autorenfilmer von Filmen dieser Art überhaupt
abhängt.
-
- (5) Die kontroverse Stellung:
Politik der Autoren gegen Banknoten-Kino, unternehmerische
Beweglichkeit gegen verwalteten Film, Innovation gegen
Auftragsregie usf. ist nichts, was sich bloß auf den Film
bezieht. Baut man Häuser kompakt wie um die Jahrhundertwende
(oder massiv, wie es die Nationalsozialisten taten), so handelt es
sich gewiß um die Betonseite und nicht um die Autorenseite.